„Es bleibt noch viel zu tun“

Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie, Michael Vassiliadis, spricht im Interview über seine europäischen Wurzeln und die Zukunft der Staatengemeinschaft.
IG BCE, Ulrich Pucknat

Was schätzen Sie an Europa besonders?

Seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert stehen Gewerkschaften in der ersten Reihe, wenn es um Europa geht. Die Idee war von Anfang an, ein vereintes, friedliches Europa zu schaffen, in dem Freiheit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit die Leitwerte sind. Auf diesem Weg sind wir weit voran gekommen, insbesondere was die ökonomischen und Sicherheitsfragen angeht. Der alte Kontinent ist heute eine Region des Friedens und der Stabilität, das ist einfach großartig. Doch es bleibt noch viel zu tun, das europäische Haus ist noch längst nicht fertig gebaut. Daran mitzuwirken bleibt eine faszinierende Aufgabe.

Was bedeutet Europa für den Arbeitnehmer?

Die aktuelle Krise und insbesondere die schwierige Lage in einigen südeuropäischen Ländern drohen hier und da den Blick für das Wesentliche zu verstellen. Doch ein Rückfall in nationalstaatlich orientierte Politiken schadet am Ende allen, gerade auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Kleinstaaterei bringt keine Lösungen, sondern verschärft nur die Probleme. Europa ist Voraussetzung und zugleich eine große Chance für sichere Arbeitsplätze zu fairen Bedingungen, für den Erhalt und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme.

Was bedeutet Europa für die Arbeitgeber?

Die heutige EU ist aus der EWG, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, hervorgegangen. Die ökonomische Zusammenarbeit hat für einen enormen Entwicklungsschub gesorgt, das gilt für Deutschland in einem besonderen Maße. Rund 60 Prozent der Exporte gehen in EU-Länder. Für die Wirtschaft ist Europa eine sichere Plattform in einer globalisierten Welt, Europa ist und bleibt ein sicherer Absatzmarkt – auch jenseits der augenblicklich schwierigen Situation. Zwingend zu beachten ist, das wirtschaftliche und soziale Stabilität einander bedingen.

Wie hat sich die Rolle der Gewerkschaften in einem zusammenwachsenden Europa verändert?
Wir wollen die europäische Wirtschafts- und Industriepolitik und selbstverständlich die Sozialpolitik mit gestalten. Jetzt in der Krise kommt es darauf an, die Solidarität konkret zu organisieren. Dazu haben wir die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, auch die mittel- und osteuropäischen Gewerkschaften sind mittlerweile in die großen Föderationen gut integriert. Ich bin Vorsitzender der industriAll, einem Bund europäischer Industriegewerkschaften mit rund zehn Millionen Mitgliedern. Unser Wort hat in Brüssel Gewicht, wir arbeiten daran, unseren Einfluss weiter zu stärken.

Warum wollen Sie Europa?

Weil Europa gut ist für die Menschen. Ohne Europa wären stabile politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse sehr viel schwieriger zu erreichen. Noch eine persönliche Bemerkung. Ich selber bin sozusagen ein europäisches Kind. Ich bin Sohn eines griechischen Migranten und einer deutschen Mutter; die Mutter meiner Kinder hat italienische Wurzeln. Ich fühle mich als deutscher Europäer und arbeite deshalb mit am Ausbau eines freien und toleranten Europas.

Glauben Sie, dass sich Europa gegen die aktuellen Herausforderungen behaupten kann?

Ja, davon bin ich fest überzeugt. Die dafür notwendige Bereitschaft ist da. Allerdings wünsche ich mir mehr Stringenz, einen roten Faden, der über den Tag hinaus weist. Die Politik ist im Augenblick zu stark reduziert auf ein Krisenmanagement. Das ist notwendig, gewiss. Aber dieser technokratische Ansatz greift zu kurz. Europa ist weit mehr als sich in Noten von irgendwelchen Rating-Agenturen darstellt. Unser guter alter Kontinent hat viel zu bieten – und steckt voller Möglichkeiten.