Interview mit dem Erzbischof Dr. Robert Zollitsch
In welchen Situationen schätzen Sie Europa?
Wenn ich ohne Grenzkontrollen von einem Land ins andere reisen kann oder wenn ich dank unserer gemeinsamen Währung nicht zu überlegen brauche, welches Geld ich mitnehme, dann wird konkret spürbar, dass wir in einem Kontinent des Friedens leben. Das weiß ich sehr zu schätzen, dafür bin ich dankbar. Europa ist vor allem eine Wertegemeinschaft. Sie ist erwachsen aus dem, was das biblische, das christliche Fundament ist. Diese Werte haben Europa geprägt. Wir wissen um den Wert der Menschenwürde, der Freiheit, der Solidarität und Gerechtigkeit.
Wann haben Sie Europa das erste Mal wahrgenommen?
Ich bin 1938 im Gebiet des heutigen Serbien geboren und dort aufgewachsen. Mit 16 verschiedenen Nationen war dieser Landstrich ein kleines Europa. Doch als ich die schrecklichen Erfahrungen von Vertreibung und Flucht erleben musste, war für mich schon als Kind klar: Es darf nie mehr Krieg geben. Als dann etwa Robert Schumann sich für den Vorschlag stark machte, die Montanunion zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten zu schaffen, war ich sehr dankbar für dieses zukunftsweisende Zeichen. Wir alle sind heute gefordert, alles dafür zu tun, damit es keinen Krieg mehr gibt, damit Feindbilder abgebaut werden und wir über all das, was wir uns in der Vergangenheit angetan haben, hinwegkommen. Es braucht den Weitblick in die Zukunft, damit Europa auch künftig ein Kontinent des Friedens bleibt.
Was bedeutet Europa für die katholische Kirche?
Europa ist ein christlich geprägter Kontinent. Als katholische Kirche richten wir immer auch den Blick über die einzelnen Landesgrenzen hinaus. Insofern verkörpert Europa auch ein Stück Katholizität, ein Stück der Universalität der Kirche. Und vor allem hat die katholische Kirche in den einzelnen Ländern viel zum Aufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Viele der Pioniere und ersten Akteure waren überzeugte Katholiken. Denken wir etwa an Robert Schumann in Frankreich, Alcide de Gasperi in Italien und an Konrad Adenauer bei uns in Deutschland. Sie haben Europa aufgrund ihres Glaubens und des biblischen Menschenbildes so geprägt und gestaltet, dass die Menschen in Frieden, Freiheit und gegenseitiger Achtung zusammenleben können, dass Feindschaften, die manchmal geradezu Erzfeindschaften waren, überwunden und Brücken der Versöhnung und Verständigung gebaut werden konnten. Brücken des Friedens zu bauen, ist eine der zentralen Aufgabe aller Religionen.
Wofür steht das christlich geprägte Europa, von dem Sie sprachen?
Was ich meine, wird besonders deutlich beim Blick auf den hohen Wert der christlichen Nächstenliebe. Sie reicht so weit, dass sie auch den Fremden einschließt und sich besonders des Ärmsten annimmt. Das ist weit mehr als das, was wir heute Solidarität nennen. Es ist das Einstehen für den Mitmenschen – unabhängig von Nation, Religion, Einkommen, Lebensalter oder Sympathie. Auch unser Einsatz für die Religionsfreiheit ist von unschätzbarem Wert. Jeder hat das Recht seine Religion frei auszuüben. In Europa sind die Religionen eigenständig, aber sie arbeiten kooperativ zusammen und prägen so das Leben und Zusammenleben der Europäer. Wir spüren, dass das Gemeinsame viel stärker ist als die Unterschiede. Das ist ein großartiges Geschenk.
Wie leben die Glaubensgemeinschaften das europäische Motto „In Vielfalt geeint“?
Wir leben nicht nur miteinander, sondern suchen den Dialog und Gedankenaustausch zwischen Katholiken, den Kirchen der Reformationen, Orthodoxen, Juden, Muslimen und anderen Gläubigen. Europa ist ein freiheitliches Land, in dem wir uns gegenseitig achten und uns mit Respekt begegnen und uns freuen, wenn Menschen im Glauben an Gott eine tragende Basis haben.
Warum wollen Sie Europa?
Ich persönlich bin überzeugter Europäer, weil ich – geprägt von meiner eigenen Lebensgeschichte – der festen Überzeugung bin, dass wir nur gemeinsam eine Zukunft in Frieden und Freiheit haben. Das ist entscheidend. Ein Rückfall in Nationalstaaterei wäre fatal. Und als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz baue ich Brücken zu den Bischofskonferenzen in den anderen Ländern und zu den anderen Konfessionen und Religionen. Europa ist unsere gemeinsame Aufgabe. Jede und jeder kann dazu beitragen, es mit Leben zu erfüllen.


