Interview mit Günter Verheugen

Günter Verheugen äußert sich in einem persönlichen Gespräch zur Bedeutung des Nobelpreises für die Europäische Union.
Günter Verheugen Foto: Björn Ewers/Studio314

Was haben Sie gedacht, als Sie von der Verleihung des Nobelpreises gehört haben?

Ich war bei einer Konferenz in Budapest als ich davon erfuhr. Mein erstes Gefühl war Überraschung und Dankbarkeit. Denn es ist wahr, die Europäische Union ist ein einzigartiges Friedensprojekt, wie es das so in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben hat. Es ist ganz wichtig, dass darauf hingewiesen wird, dass es bei der europäischen Einigung nicht um Normen und Standards, Quoten, Kredit und Zinsen geht. Stattdessen geht es darum, dass die Menschen in Europa in Frieden, in Freiheit und in Wohlstand leben können. Deshalb sehe ich diesen Nobelpreis nicht nur als eine Anerkennung, sondern auch als eine Ermunterung, ja geradezu als eine Ermahnung, den einmal beschrittenen Weg konsequent weiter zu gehen.

Wäre die Welt ohne Europa weniger friedlich?

Aber sicher. Von Europa gingen die verheerenden Kriege im 20. Jahrhundert aus. Wie die Europäer ihr Zusammenleben organisieren, ist deshalb global von Bedeutung. Und es ist sehr unwahrscheinlich, zu glauben, dass unser Kontinent ohne die europäische Einigung diese schon so lange währende Phase eines friedlichen Miteinanders erlebt hätte. Nehmen wir nur unser eigenes Land: Wir leben seit 67 Jahren in Frieden. Das ist eine Friedensperiode, die wir in unserer Geschichte zuvor noch nicht gekannt haben. Ich bin mir ganz sicher, dass die Welt und dass Europa ein sehr viel schlechterer Ort wäre, wenn es dieses große Projekt der europäischen Einigung nicht gäbe.

Wie wird Europa derzeit in der Welt wahrgenommen? Besitzt es eine Vorbildfunktion?

Es gibt eine ganze Reihe von Gegenden in dieser Welt, in denen sehr deutlich gesehen wird, was wir in Europa erreicht haben und wo dies auch als Vorbild für die eigene Entwicklung angesehen wird. Das kann man z.B. in Südostasien, Afrika und Lateinamerika beobachten. Allerdings ist es auch so, dass der derzeitige Zustand der europäischen Politik und leider auch der Zustand der Europäischen Union selbst in vielen Teilen der Welt eher zu Besorgnissen und zu Kritik Anlass gibt.

Wird Europa seine Anziehungskraft für potenzielle Beitrittskandidaten behalten?

Ja, daran habe ich keinen Zweifel. All die europäischen Völker, die noch nicht zur Europäischen Union gehören und dazugehören wollen, haben an ihrer Entschlossenheit überhaupt nichts eingebüßt. Ich sehe viele, welche die Europäische Union wollen und niemanden, der aus der Europäischen Union austreten will. Aber wir gehen durch eine sehr schwierige Phase. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass wir daraus am Ende sogar gestärkt hervorgehen werden. Es ist von großer Bedeutung, dass wir den Menschen in Europa, die bisher noch nicht zur Europäischen Union gehören nicht das Gefühl vermitteln, wir wollen sie nicht. Und da bin ich etwas besorgt. Gerade auch im eigenen Land, in Deutschland, mehren sich die Stimmen, die sagen, die Erweiterung ginge viel zu schnell und die EU würde die Tür jetzt zumachen wollen. Das jedoch ist ein ganz verehrendes Signal an diejenigen, die sich große Mühe geben, die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft zu erfüllen. Wir dürfen keine neue Grenze in Europa entstehen lassen, eine Grenze zwischen denjenigen, die schon dazugehören und denjenigen, die nicht dazugehören.

Welche Wirkung hat die Verleihung des Friedensnobelpreises auf das europäische Gemeinschaftsgefühl?

Ich kann nur hoffen, dass die Verleihung des Friedensnobelpreises dazu beiträgt, die Menschen in Europa dazu zu bringen, auf das Wesentliche zu schauen. Und das Wesentliche sind eben nicht die Alltagsquerelen, die Mühen, die wir jeden Tag haben, unsere Probleme zu lösen, sondern das Wesentliche ist, dass wir ein Europa der Werte geschaffen haben und dass in diesem Europa Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit fest verankert sind. Das sind die wirklichen Voraussetzungen für Frieden und für Wohlstand. Es ist ganz wichtig, dass wir alle begreifen, dass das nicht selbstverständlich ist, sondern dass dies das Ergebnis von manchmal mutigen und vorausschauenden politischen Entscheidungen ist; und dass das, was wir erreicht haben, ebenfalls nicht selbstverständlich ist, sondern dass es verteidigt werden muss.

Stellen Sie sich vor, sie würden am 10. Dezember die Laudatio halten. Was würden Sie Europa mit auf den Weg geben?

Ich würde Europa an erster Stelle mit auf den Weg geben, dass dieser Kontinent eine Verantwortung für die ganze Welt hat. Aus Europa sind großartige Ideen gekommen, die sich in der ganze Welt ausgebreitet haben. Aus Europa sind aber auch Ideologien gekommen, die zu den schlimmsten Verbrechen geführt haben, welche die Menschheit je gesehen hat. Wir haben mit der europäischen Einigung einen Neuanfang gesucht –nämlich das, was wir aus unserer eigenen Geschichte gelernt haben. Aber wir dürfen uns nicht nur um uns selbst kümmern, sondern müssen auch internationale Verantwortung übernehmen. Aber das geht nur, wenn wir politisch einig und wirtschaftlich stark sind.