Europa-Rede von Martin Schulz: Absage an die Kurzfristigkeit

Der Präsident des Europäischen Parlaments hielt auf Einladung der Robert Bosch Stiftung, der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Stiftung Zukunft Berlin die dritte „Europa-Rede“.
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Dass die Europäer seit sechzig Jahren ohne Krieg zusammenlebten, sei das Verdienst der Europäischen Integration, so Schulz, denn der Friede sei "wahrlich nicht in der europäischen DNA verankert". Die Auszeichnung der EU mit dem Friedensnobelpreis sei deshalb ein Auftrag, der Kurzfristigkeit der Politik eine Absage zu erteilen und eine langfristige Politik anzustreben. Martin Schulz verwies auf die Weitsicht des französischen Außenministers Robert Schumann, den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand zu reichen und es ihnen zu "gestatten, erhobenen Hauptes in die demokratische Völkerfamilie zurückkehren zu können". Die deutsch-französische Freundschaft war und ist Triebfeder der europäischen Einigung. Nach der Osterweiterung der EU ist es Schulz zufolge an der Zeit, dieses Paar um einen Dritten im Bunde erweitert werden: um Polen, die dynamischste Volkswirtschaft Europas.

Die Herausforderung der Politik sind heute immens: Angesichts einer immer komplexeren Gesellschaft, einer globalisierten Mediengesellschaft und des "Ereignisdrucks der Märkte" müssten Handlungsfähigkeit und Demokratie in Europa erhalten bleiben. Dazu gehöre auch, die nationalen Parlamente in die Entscheidungen über Wege aus der Krise einzubinden. "Zeiten der Krise sind immer Zeiten der Exekutive", sagte Schulz. Dennoch drohe die "Vergipfelung" der vergangenen drei Jahre die parlamentarische Demokratie auszuhöhlen. Wie untrennbar unsere Volkswirtschaften, Gesellschaften und Leben bereits miteinander verknüpft sind, hätten die meisten Menschen in Europa längst begriffen. "Ein Land kann alle anderen mit in den Abgrund reißen, diese Erkenntnis hat uns seit geraumer Zeit eingeholt." Manche Regierungen versuchten trotzdem, nationalstaatliche Interessen in Europa durchzuboxen und verkauften die Ergebnisse zu Hause als Sieg. Martin Schulz zitierte stattdessen die Logik des von Ulrich Beck propagierten Positiv-Summen-Spiels: "Entweder gewinnen wir alle oder verlieren wir alle." Viele politische Aufgaben, seien es der Umgang mit dem Klimawandel oder die Regulierung der Finanzmärkte, erforderten Schulz zufolge längst supranationale Lösungen.

In Sorge zeigte sich Martin Schulz über die wiederaufkeimenden nationalistischen Vorurteile in Europa. Viele Deutsche sehen sich als Zahlmeister der Staaten des Südens, Völker im Süden empfinden sich hingegen als Opfer einer aus Berlin oktroyierten Sparpolitik. „Dabei sind sie alle, wir alle sind Opfer der Finanzkrise. Die einen zahlen mit ihrem Steuergeld für Garantien, die anderen durch Kürzungen von Leistungen." Martin Schulz forderte die Menschen auf, sich der Spaltung Europas entgegenzustellen und warb dafür, auch in der Tagespolitik die langfristige Stabilität unserer Gesellschaften und Demokratien nicht aus den Augen zu verlieren. Langfristigkeit müsse darüber hinaus auch zur Maxime der Wirtschaft werden. Weil sich Deutschland heute in der Lage wiederfinde, so Martin Schulz, "durch seine wirtschaftliche Macht erneut zum Schlüssel in Europa geworden zu sein", erinnerte er an Thomas Manns Appell, nicht nach einem deutschen Europa, sondern nach einem europäischen Deutschland zu streben.